Bundesverfassungsgericht schützt Steuerzahler vor rückwirkenden Gesetzesänderungen

vom 05. Oktober 2010 (aktualisiert am 14. Januar 2011)
Von: Lutz Schumann

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat es in drei unterschiedlichen Fällen für verfassungswidrig erklärt, Gesetze rückwirkend anzuwenden. Dies verstoße gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Zwar gelten die drei Entscheidungen nur für vergleichbare Fälle und auch nur dann, wenn die Betroffenen damals wirksam Einspruch gegen ihren Steuerbescheid eingelegt haben. Jedoch beinhalten die Urteile auch eine allgemeine Aussage: Wenn der Gesetzgeber neue Vorschriften und Verschärfungen rückwirkend anwendet, dann haben die betroffenen Steuerzahler gute Aussichten, sich dagegen gerichtlich zu wehren. Zudem erleichtern es die Urteile, wirtschaftlich zu planen und zu handeln, ohne von einer unverhältnismäßigen rückwirkenden Gesetzesänderung überrascht zu werden.

1. Fall: Rückwirkende Verlängerung der Spekulationsfrist bei Immobilien von zwei auf zehn Jahre

Im ersten Fall ging es um die Spekulationsfrist bei privaten Immobilien- und Grundstücksgeschäften. Lagen mehr als zwei Jahre zwischen Kauf und Verkauf einer privaten Immobilie, so blieb ein Gewinn bis zum 31. Dezember 1998 steuerfrei. Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 verlängerte sich die Spekulationsfrist von zwei auf zehn Jahre (geänderter Paragraf 52 Absatz 39 Satz 1 Einkommensteuergesetz, EStG). Das Gesetz wurde am 31. März 1999 verkündet und trat rückwirkend zum 1. Januar 1999 in Kraft.

Der Knackpunkt: Die Rückwirkung erfasste auch Immobilienbesitzer, bei denen die zweijährige Spekulationsfrist längst abgelaufen war. Wegen der neuen Regelung befanden sie sich innerhalb der zehnjährigen Spekulationsfrist und sollten Einkommensteuer auf ihren Gewinn zahlen. Dagegen wehrten sich drei Kläger, die ihre Grundstücke in den Jahren 1990 beziehungsweise 1991 erworben und 1999 veräußert hatten. (Zwei von ihnen veräußerten ihre Immobilie im Februar und März vor Verkündung des Gesetzes, einer im April 1999 nach der Verkündung.)

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts fasste die drei Fälle zusammen und entschied, dass die rückwirkende Anwendung gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes verstößt und deshalb teilweise verfassungswidrig ist (Beschlüsse vom 07. Juli 2010, Aktenzeichen: 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04 und 2 BvL 13/05).

Dieses Urteil schützt Steuerzahler nicht vor zukünftigen Gesetzesänderungen. Die Richter stellten klar, dass es grundsätzlich möglich ist, Gesetze mit Wirkung auf die Vergangenheit zu ändern. Die Rückwirkung muss jedoch verhältnismäßig sein. In den entschiedenen Fällen war sie nicht verhältnismäßig, weil die Immobilienbesitzer ihre Wertsteigerung vor Verkündung des Gesetzes verwirklicht haben oder sie zumindest hätten verwirklichen können. Sprich: Sie verfügten über eine schutzwürdige Position, weil die für sie gültige zweijährige Spekulationsfrist abgelaufen war und der steuerfreie Veräußerungsgewinn konkret greifbar war.

Gegenbeispiel: Wer sein Haus oder seine Wohnung 1998 erwarb, befand sich 1999 noch innerhalb der zweijährigen Spekulationsfrist. Vereinfacht ausgedrückt, hatte er noch keine schutzwürdige Position erreicht. Mit Gesetzesänderungen ist immer zu rechnen. Über eine Wertsteigerung der Immobilie konnte er nicht sicher sein, daher beeinträchtigte die Gesetzesänderung auch keine greifbaren Vermögenswerte. Für diesen Fall überwogen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die Interessen des Gesetzgebers, welche mit dem Steuerentlastungsgesetz einhergingen.

2. Fall: Senkung der Beteiligungsquote bei der Besteuerung privater Veräußerungen von Kapitalanteilen

Die Gewinne beim Verkauf von privat gehaltenen Anteilen an einer Kapitalgesellschaft (GmbH, AG) unterlagen bis zum 31. Dezember 1998 als Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Einkommensteuer. Voraussetzung dafür war, dass der Steuerpflichtige innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung zu irgendeinem Zeitpunkt mit mehr als 25 Prozent an dem Unternehmen beteiligt war.

Nach der Bundestagswahl 2008 senkte die neue Regierung diese Beteiligungsgrenze von 25 auf 10 Prozent. Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 (verkündet am 31. März 1999) wurde der Paragraf 17 Absatz 1 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geändert. Auch in diesem Fall galt die Neuregelung ab dem Veranlagungszeitraum 1999 und bezog frühere Beteiligungsverhältnisse rückwirkend ein.

Die Karlsruher Verfassungsrichter stuften diese Rückwirkung als verfassungswidrig ein (Beschlüsse vom 07. Juli 2010, Aktenzeichen: 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05 und 2 BvR 1738/05).

3. Fall: Kürzung der Entlastung von Entschädigungen für entgangene oder entgehende Einnahmen

Bis zum Jahresende 1998 waren außerordentliche Einkünfte nur mit der Hälfte des persönlichen Steuersatzes zu versteuern. Zu den außerordentlichen Einkünften gehört zum Beispiel die Entschädigung/Abfindung nach einer Entlassung.

Nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 trat die so genannte Fünftel-Regelung (Paragraf 34 EStG) in Kraft. Dadurch war eine höhere Steuer fällig als zuvor.

Auch in diesem Fall galt die Neuregelung ab dem Veranlagungszeitraum 1999 und betraf rückwirkend Entschädigungen, die vor dem 31. März 1999 vereinbart worden waren, also vor Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002. Die Rückwirkung verstößt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gegen den Vertrauensschutz und ist daher verfassungswidrig (Beschlüsse vom 07. Juli 2010, Aktenzeichen: 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06 und 2BvL 58/06).

Steuer-Tipp: Sind Sie von einer dieser verfassungswidrigen Gesetzesänderungen betroffen? Dann kommt es darauf an, ob Sie gegen den damaligen Steuerbescheid wirksam Einspruch eingelegt haben. Falls ja, muss das Finanzamt Ihren Fall aufrollen und die alte Regelung anwenden.

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